Philosophische Streifzüge

Wie rational ist es in einem Gemeinschaftsprojekt zu leben, wo sich doch immer mehr Menschen vor anderen Menschen; ihren Viren, ihren Emotionen, ihren Machtgelüsten zu fürchten beginnen und lieber von einer einsamen Hütte im Wald träumen, um dort Thoreau zu lesen?

Als erwachsene Menschen. die das Wachsen dennoch nicht einstellen oder auf den Bauchumfang beschränken wollen, haben wir bereits die eine oder andere Erfahrung mit Formaten gemacht, die Wachstum versprechen. Im Cohousingprojekt Lebensraum beispielsweise haben wir so eine Erfahrung mit dem Dialogkreis gemacht. Am 1.11.2011 begann die Einführung in dieses Format und es verlor allmählich seine Form. Nach rund eineinhalb Jahren im Juli 2013 war es zerfranst. Es gab Wiederbelebungsversuche, und zwar immer dann, wenn irgendetwas "Schlimmes" passiert ist; etwa als Fahrräder gestohlen wurden, privates, am Gang gelagertes Zeug, durcheinander gewirbelt wurde, oder Konflikte zwischen den Nachbar:innen unangenehme Hitze erzeugten. Zwar war der 1.11.2011 "ein schönes Datum", wie die Initiatorin des Dialogkreises damals anmerkte, aber selbst die schönsten Initialzahlen garantieren offensichtlich keine Nachhaltigkeit. Jetzt stellt sich die Frage, warum dieses Format hier im Lebensraum so rasch verdampft ist und davor die Frage: worum geht es in einem Dialogkreis eigentlich?

"Menschen setzen sich im Kreis um eine Mitte, die mit Kerze, Klangschale und einem Sprechsymbol gekennzeichnet ist. Sie sprechen und hören einander in einer achtsamen Haltung zu" (https://www.dialogkreise.at/ abgerufen am 28.9.2020)

Es geht also darum in Beziehung zu kommen und einander zuzuhören. Konkret heißt dies, den eigenen und fremden Befindlichkeiten, Gefühlen und Gemütszuständen eine Ausdrucksmöglichkeit zu geben, sodass der Ausdruck eines Anderen einen Eindruck bei den im Kreis sitzenden Menschen hinterlassen kann. Für denjenigen, der sich in einem erregten Gemütszustand befindet, ist es eine wohltuende Erfahrung, wenn ein anderer Mensch zuhört, ohne das zum Ausdruck gebrachte zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Das ist das erste Geheimnis der Beichte und die Grundlage der Psychotherapie, birgt aber die Gefahr, dass die anderen als eine psychologische Löschdecke für ein eigenes regelmäßig überhitztes Gemüt missbraucht werden. Das zweite Geheimnis der Beichte ist die Absolution, also das Verzeihen. Wir hören zu, erlauben dem Anderen sich auszudrücken - gefesselt in dem Format des Dialogkreises und der Kerze in der Mitte -, empfangen unausweichlich einen Eindruck (der auch ein Alpdruck sein kann), beißen die Zähne zusammen, lächeln und hoffen, dass das Ganze bald vorbei sein möge, damit wir zu Hause in Ruhe über den Eindruck nachdenken können, weil das im Dialogkreis nicht vordergründig gewünscht ist. Aber bald haben wir es satt, für diese Dienstleistung, weder mit priesterlichen Würden ausgestattet zu werden, noch dafür Geld zu bekommen (wie ein Psychotherapeut) und bleiben diesen Veranstaltungen aufgrund des geschilderten Ungleichgewichts fern.


Balance durch gemeinsame Reflexion

Was einem so praktizierten Format des Dialogkreises fehlt ist Gerechtigkeit. Alles in der Natur sucht und strebt nach einem Gleichgewicht, wenn es in Unordnung geraten ist. Und es kommt ständig etwas in Unordnung und damit ist ständige Bewegung garantiert - das nennen wir Lebendigkeit. Jedes lebendige Subjekt, ob Pflanze, Tier oder Mensch wächst durch Unordnung - wir nennen es Krise. Und wir, die das Abenteuer eines Lebens in einem Gemeinschaftsprojekt gewählt haben, vermehren Frequenz und Potential von Krisen durch den Umstand, dass wir die Abgrenzung zu anderen Menschen verringern, statt sie durch die Einfriedung eines Einfamilienhauses samt Thujahecke zu erhöhen. So gleichen wir Paradeisern (urspr. Paradiesapfel oder Liebesapfel, allgm. Tomate), die in der Erde im Garten wachsen; die Wind, Regen und direktem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Wir Geinschaftsprojektbewohner:innen sind keine [Au]Tomaten, die in einem Steinwollesubstrat im Glashaus gezogen werden, abgeschirmt von Bodenbakterien, Wind, Wetter und Lebewesen, die uns zum Fressen gern haben. Lang andauernde Niederschläge führen bei den im Garten wachsenden Paradeisern jedoch häufig zu Krautfäulnis, weswegen, der durch Erfahrung gebildete Gärtner, sie bedächtig vor zu viel Nässe schützt. Wir, die lebensdurstigen Abenteurer, die mitten im Menschenzoo in Gemeinschaftsprojekten wohnen, müssen uns daher vor ungefilterten Ausdrücken des Anderen schützen, und zwar mittels Reflexion des Ausdrucks des Anderen. Wir müssen über die Bedeutung des Ausdrucks und über den Eindruck, den er bei uns erzeugt, nachdenken. Der Andere liefert uns mit seiner Befindlichkeit, mit der Schilderung seines Gemütszustandes, Erfahrungsdaten. Damit diese Erfahrungsberichte nicht verderben und zu belastenden Seelenmüll verkommen, müssen wir sie richtig einordnen. Wenn wir dies gemeinsam tun, dann werden alle Beteiligten reichlich entlohnt und es fühlt sich gerecht an, weil wir daran wachsen und reifen können.

Kein Speckreifen, kein Breitenwachstum, sondern mehr Tiefe und Lebendigkeit

 

Die Psychonautik ist das Erforschen der eigenen Psyche und des Unbewussten, meist mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Techniken wie Meditation, Yoga oder psychotropen Substanzen. Wir Psychonauten des Gemeinschaftslebens haben aber einen Zugang zur Bewusstseinserweiterung, abseits von diesen Techniken gefunden: wir haben unsere Nachbarinnen und Nachbarn. Und wenn wir ein philosophisch inspiriertes Format entwickeln, in dem sie in freundschaftlicher Atmosphäre über ihre eindrucksvollen Erfahrungen erzählen können und wir dann gemeinsam über die Bedeutung dieser Erfahrung nachdenken und diskutieren, wenn wir den Mut finden den eigenen Verstand dort zu schulen und zu benutzen, dann ist das eine wunderbare Ergänzung zu psychotropen Substanzen oder Meditationstechniken und ein sehr rationaler Grund in einem Gemeinschaftsprojekt zu wohnen. Denn so eine Wohnform ist ein Garant für mehr Tiefe; für mehr Einblick in die Vielfalt und die Zusammenhänge der Welt, und damit ein Mehr an Lebensfreude. Lebensfreude entsteht durch Bildung, das heißt durch unerschrockene und genaue Beobachtung und dem Entwickeln von passenden Konzepten und adäquaten Ideen über die Wirklichkeit und nicht wenn in Befindlichkeitsrunden Gefühlsdaten unreflektiert aneinander gereiht werden oder wenn wir uns hinter Thujahecken verschanzen.