Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.

Wie die Welt und wie die Nationalstaaten der von Covid-19 ausgelösten Gesundheitskrise begegnen, erfährt man im Sekundentakt von den elektronischen Sklaven der Stunde, den JournalistInnen. Rund um den Jahrestag der Coronakrise und aus aktuellem Anlass, erscheint es angebracht den Umgang mit der Pandemie in einem Gemeinschaftsprojekt zu beleuchten.

Die Lage ist geographisch bemerkenswert und tierisch interessant. Wir befinden uns beinahe in einem Gemeinschaftsprojekt-Cluster, denn das 2005 errichtete Projekt Lebensraum befindet sich gleich vis-a-vis von der Ökosiedlung, einem Gemeinschaftsprojekt, das in den 1980ern gebaut wurde. Beide sind eingekeilt zwischen Pferdeeinstellbetrieben. Pferde, mit ihren unterschiedlichen Gangarten, von Schritt, über Trab bis hin zum Galopp, sind allgegenwärtig und ihre Fortbewegungsgeschwindigkeit soll die Folie sein, auf der ich den Umgang mit Corona in unserem Gemeinschaftsprojekt untersuche.

Seit 2011 haben wir es nach mehreren vergeblichen Anläufen geschafft eine Kochgruppe zu etablieren, die allen offen steht und von Montag bis Donnerstag ein Abendessen für ihre Mitglieder produziert. Eine wichtige, weil entlastende, Infrastruktur. Im März 2020, als eine verdunkelnde Corona unser gesellschaftliches Leben einhüllte, fanden sich rasch einige besorgte Mitglieder der Kochgruppe nach einem gemeinsamen Abendessen zusammen und beschlossen kurzerhand die Kochgruppe in einen Lockdown zu schicken. Fand die Entscheidung im Schritt, Trab, oder Galopp statt? Wenn nur Wenige eine Entscheidung im Galopp für Viele treffen, dann müssen sie sich Zeit nehmen und die Sache gründlich überlegen, etwa so: Wie schleust man den Virus in die Gemeinschaft häufiger ein; wenn Viele einkaufen fahren oder nur Einzelne, die für Viele kochen? Wie kann die Essensverteilung organisiert werden, um die Abstandsregeln einzuhalten? 

Nun lehrt die Erfahrung, dass es leichter ist etwas zu zerstören als aufzubauen, weniger langwierig etwas zu schließen als zu eröffnen usw. Die Küche blieb bis zum Sommer kalt und der improvisierte Kochzyklus über die Sommermonate bleibt nicht etwa wegen der wohlschmeckenden Speisen in Erinnerung, sondern wegen der vielen ausgefallenen Kochtage, an denen niemand kochte. Der Niemand brachte die Jemands zum Kochen, insofern als jene, die ihre Kochaufgaben brav erledigt hatten - also die Jemands - sich ein wenig durch die Niemands übervorteilt fühlten. Aber Schwamm drüber. Wer solche Auf und Abs in Sachen Gerechtigkeit nicht erträgt, der sollte nicht in einer Gemeinschaft leben und auch keine sportlichen Herausforderungen annehmen, bei denen Schiedsrichter und Zufall eine größere Rolle spielen. Jedenfalls aber mutierten Eltern zu Großmüttern, weil sie bereits in den frühen Morgenstunden ihre Kochschürzen überstreiften, um für ihre eingeschlossene Familie Mittag- wie Abendessen zu kochen. Die Kochgruppe blieb nämlich bis zum Herbst geschlossen. Solange dauerte der Galopp der Panik, bis die leise Stimme der Vernunft endlich eine pragmatische Lösung gefunden hatte, um auch in einem an Lockdowntagen sehr reichen Land wie Österreich einen Coronatauglichen Kochzyklus zu organisieren.

Die Kinder haben es in einem Gemeinschaftsprojekt gut. Bereits im März wurden kleine überschaubare Gruppen gebildet, damit die Kinder in ihrer Gruppe miteinander spielen können, ohne dass sich ein potentielles Infektionsgeschehen über alle Kinder hinweg bis in die Familien und deren Angehörige unkontrolliert verbreiten kann. Seit dem sie in der Schule regelmäßig getestet werden, spielen sie wieder mit wem sie gerade Lust haben und sind nicht mehr an eine definierte Gruppe gebunden.

Vergangenen Freitag übernachtete unser achtjähriger Sohn bei einem Freund in der Ökosiedlung. Samstag Mittag, als die eingeladenen betagten Großeltern gerade ihre Burger mampften, rief mich die Mutter des Freundes an und teilte mit, dass ihr Sohn und dessen Vater mittels Corona-Antigentest positiv getestet wurden. Das an Überraschungen wahrlich nicht arme Coronajahr hat sein Füllhorn offensichtlich noch nicht ganz entleert. Wie gut, dass man in diesem Jahr gelernt hat in den Tag hinein zu leben, nur skizzenhaft zu planen, aufzustehen und einmal zu sehen was der Tag für Einen bereit hält. Eine ganz neue Tugendübung für den vorsorgenden Denkstil hierzulande, aber schlecht für den auf ein Ziel zugaloppiernden Modus. Jedoch die Gangart "Trab" erschien aufgrund des Anrufs angebracht.

Sollte sich der Sohn in der Nacht angesteckt haben, war er sicher noch kein Superspreader, denn die Kinder wurden am Mittwoch in der Schule negativ auf Corona getestet. Außerdem sollte den Antigentest nicht mit einem PCR-Test verwechseln. Falsch positive Ergebnisse des ersteren können schon einmal 50% betragen (vgl. Artikel in der "Presse"). Der Sohn wurde vorsorglich kaserniert und mit einer Maske ausgestattet, als er das menschenleere Trampolin am Sonntag Vormittag heimsuchte. Kommen die Coronaeinschläge näher ist man unter Menschen am sichersten, die verantwortungsbewusst handeln, weil sie ihre Nächsten lieben und einander vertrauen. Aber nervöse Pferde scheuen leicht und fliehen im gestreckten Galopp, vor der Gefahr. Daher trainiert man Polizeipferde, in dem sie auf prall gefüllte Luftballons treten und lernen auch einen lauten Knall zu tolerieren.

Ein Antigentest ist nur ein klein wenig mehr als heiße Luft, aber unser besorgter Vorstand hat am Sonntag in der Nacht - ohne mit einer der betroffenen Familien davor zu sprechen - ein Mail an alle geschickt, in dem sechs Rufzeichen und auf vier Zeilen dicke fette Letter Verwendung fanden. Sieben Kinder wurden in dem Schreiben namentlich genannt -  und ich war schon versucht in der Familie gelbe Stirnbänder zu verteilen, damit die Gefahr weithin für Jeden sichtbar ist. Während ich diese Zeilen schreibe, heute Vormittag, fand wieder eine Nachricht zu uns. Diesmal eine die den Namen verdient; eine nach der man sich richten kann: Die PCR-Tests der Gastgeber unseres Sohnes sind negativ. Gerade eben ist der Sohn aus der Wohnung gestürmt, um mit zwei Freunden, die ebenfalls vorsorglich von der Schule daheim geblieben sind, eine Negativcoronatestparty im Trampolin zu feiern.

Obwohl unsere Siedlung auf einem Grundstück errichtet wurde, das zu einem "Töltgut" gehörte, ist der Vorstand am Sonntag in der Nacht nicht im Tölt unterwegs gewesen und ich bin versucht ihm mein Vertrauen zu entziehen. Aber das wäre vielleicht auch eine übereilte Gangart, denn die Vernunft gebietet es alle Umstände zu prüfen, die zu diesem Mail geführt haben. Aber eines erscheint mir sicher: Wenn die Bezirkshauptmannschaft oder - um einen faireren Vergleich zu gebrauchen - der Dorfvorstand von Parbasdorf eine Namensliste der BürgerInnen veröffentlicht, die von einen positiven Antigen-Coronatest betroffen sind, verschrecken sie alle ihre MitbürgerInnen mit Knallerbsen. Das kann man im Fasching machen, aber nicht Mitte März 2021. 

Der Titel dieses Artikel ist ein Zitat von einem gewissen Herrn Uljanow, genannt Wladimir Iljitsch Lenin. Ich habe ihn aufgrund des ersten Satzes des Mails unseres Vorstands gewählt: "Wir sind einigermaßen verwundert, um mehrere Ecken herum zu erfahren, dass Personen in der Ökosiedlung positiv getestet wurden." Was wird damit ausgedrückt? Nun nichts weiter als eine Vertrauenskrise wird hier dokumentiert, die ja nicht nur uns hier im Lebensraum hartnäckig piesackt, sondern beinahe die ganze Welt. Die chinesische Führung hat schon eine Lösung, die den Leninspruch in die elektronische digitale Tat umsetzt, um damit die chinesische Bevölkerung kontrollieren zu können. Das Ganze zu Ende gedacht, ergibt eine ruinöse Kette von Kontrollen ohne Ende. Unserem Vorstand empfehle ich statt dessen die Lektüre des dänischen Philosophen Knud Ejler Løgstrup, der in seinem Buch "Die ethische Forderung" das Dilemma beschreibt, wonach "jeder Mensch ein selbstständiges und verantwortliches Individuum ist - und das wir unentrinnbar und tiefgreifend aufeinander angewiesen sind, womit unsere gegenseitigen Beziehungen in unmittelbarster Weise zu Machtbeziehungen werden."