Vor über fünfzehn Jahren war das Lebensgefühl hier im Cohousingprojekt Lebensraum ein utopisches: Die meisten hier glaubten an phantastische gesellschaftliche Zustände. Aber wie üblich sickern mit der Zeit weniger fromme Zustände nach Utopos - dem Nicht-Ort - ein. Der Artikel geht der Frage nach, wieso dies eine historisch mehrfach belegte Realität ist und bleibt.
Es ist immer wieder ein wunderherrliches Erlebnis, wenn jemand, der gerade in einem neuen Utopia angekommen ist davon erzählt. Die Gesichtszüge werden dabei ebenmäßig, die Mundwinkel trotzen scheinbar mühelos der Schwerkraft, die Augen leuchten und die Stimme klingt springlebendig. So war es denn wohl auch als ich in den ersten Jahren nach 2005 von unserem Gemeinschaftsprojekt erzählte. Ich erinnere mich noch ganz gut an eine ältere Berliner Freundin, die sanft lächelnd das Wort "Anlage" aus meiner begeisterten Schilderung der Wohnanlage extrahierte und süffisant in ihre Fragen über das Cohousingprojekt einbaute. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Von einem göttlichen Gemeinschaftsrausch ist bei den knapp 32% verbliebenen Ureinwohnern Utopias - vulgo die "Anlage" des Cohousingprojekt Lebensraum - nichts mehr zu sehen. Nur hin und wieder ist bei dem einen oder anderen aktuellen Bewohner eine Nuance eines Gemeinschafts-Schwips bemerkbar. Zwar waren nicht alle die von dannen gezogen sind verkatert (einige sind in andere Gemeinschaftsprojekte übersiedelt), aber es stellt sich die Frage; warum es in Utopia zu wenig zu trinken gibt?
Das Soma Utopias
Der Begriff Soma wird im Rigveda erwähnt, dem ältesten Teil der indischen Veden, und bezeichnet dort einen Rauschtrank der Götter. Die Zutaten für somatische Getränke in Gemeinschaften sind:
- Die Beachtung der Menschenrechte
- Vermeidung von Ökonomisierung und Förderung der Gemeinwohlorientierung
- Gemeinsamer Austausch und Diskussion (zulassen von Meinungsvielfalt) zur Vorbereitung von gemeinsamen Entscheidungen, statt Befehlen, An- und Unterordnung
- Diversität; also die Achtung jener die traditionell nicht geachtet werden
- Subsidiaritätsprinzip, d.h. wann immer möglich eine Organisation der Gemeinschaft von unten nach oben
- Uniformes Anliegen aller sich mit den aktuellen Problemen der Gemeinschaft zu beschäftigen; Zeit und Muße haben nach Lösungen zu suchen (freiwillig und abhängig von den individuellen Talenten und Neigungen)
- Lustvolle gemeinsame Erlebnisse und gemeinsames Lachen (Humor)
Wenn man die Liste Punkt für Punkt durchgeht und bei der Beurteilung recht großzügig ist, dann könnte man behaupten, dass es mit der Braukunst im Lebensraum gar nicht so schlecht steht. Zumindest die geistige Essenz der meisten der genannten Zutaten stehen in diversen Verträgen, Statuten oder Visionspapieren. Aber nicht nur das, sondern es ist auch über weite Strecken hinweg gelungen, dass dieser Geist Teil der Atemluft ist, die bei diversen Besprechungen die Stimmbänder in Schwung bringt.
In mehr als fünfzehn Jahren Gemeinschaft passieren Verletzungen. Das lässt sich nicht vermeiden. Das Soma wirkt hier als Analgetikum (Schmerzmittel) und beschleunigt die Wundheilung. Aber scheinbar ist die Dosis hier im Lebensraum zu gering. Es stellt sich keine allgemein spürbare Trunkenheit ein, die das Vermögen hat Klarheit über Utopia im individuellen Bewusstsein zu erzeugen. Möglicherweise läuft auch irgendetwas beim Brauprozess schief. Die Enzyme sind vorhanden, sofern die Einschätzung richtig ist, dass viele der genannte Zutaten im Lebensraum vorhanden sind. Vielleicht läuft der Prozess nicht steril genug ab und es kommt zu einer unerwünschten Kontaminierung von außen?
Das Malum der Peripherie
Ruinen der Jesuitenreduktion von San Ignacio |