Verrückte Hühner

Wenn man im Leben etwas erleben will muss man inmitten des Menschenzoos leben. Nur dort, wo wir am Lebendigen teilnehmen und uns mitten im Getümmel befinden, entstehen die packenden Geschichten. Bekömmlich ist das Faszinierende aber nur, wenn es uns gelingt unsere Seele und die daran angeschlossenen Arme und Beine aus dem Tummult halbwegs herauszuhalten. Das erfordert eine lebenslange Übung im Strudel des Lebendigen und ist nicht mit einem Trockentraining zu erreichen!

Das griechische zṓon (ζῷον) meint "Lebewesen, Geschöpf, Tier" und daher ist es nicht despektierlich gemeint, wenn hier vom Menschenzoo die Rede ist. Die Geschichte handelt von Menschen und Hühnern und geht ungefähr so: Es war einmal ein Mann, der hatte im Alter seine Liebe zum Gartenbau entdeckt. Hingebungsvoll und leidenschaftlich hegte und pflegte er tagaus, tagein sein Refugium, zu dem er Zuflucht nahm, um seine Tage zu verleben. Aber - wie fast immer - war seine Liebe keine reine Liebe, denn die ist so springlebendig, dass sie nimmer satt wird und immer weitere Teile zu lieben beginnt, bis sie schließlich das ganze Universum liebt. Das vermochte die Liebe des alten Mannes zu seinem Garten nicht. Sie war begrenzt von den lieblichen Blumenbeeten am Rande seines Gartens.

Eines Tages rückte die Vorhut der gefiederten Armee in seinen Garten ein und begann mit scharrenden Bewegungen Schützengräben auszuheben. Das war ein Affront und erforderte mehr als eine diplomatische Reaktion, zumal diese Grenzverletzungen schon mindestens zwei oder drei mal vorgekommen waren. Wer jemals schon einmal versucht hat einen gefiederten Soldaten zu fangen, der weiß dass man dabei ruhig und schlau vorgehen muss. 

Der alte Mann begann zu jähten und beruhigte sich allmählich dabei. Ein besonders wagemutiges und vertrauensseliges Huhn tat dann das, was ihm seine Natur befiehlt, nämlich in der gelockerten Erde nach Würmern und anderen Leckereien zu suchen. Der Gärtner konnte so das Huhn leicht gefangen nehmen. Obwohl er also seine erste Empörung über das Huhn bereits vergessen hatte, schnellte das zornige Gefühl über die Schändung seines Blumenbeets danach jäh wieder an die seelische Oberfläche und er marschierte im Stechschritt zur nächstgelegen Wohnung der Hühnergruppenbefehlshaber, öffnete ungefragt die Wohnungstür und warf den Casus Belli in die Wohnung. 

Die diensthabende Offizierin der Hühnerarmee und ihre fünfjährige Adjudantin waren verblüfft, als das Huhn in die Wohnung flatterte. Die Adjudantin kam aus dem unprofessionellen Staunen nicht heraus, aber die Offizierin erlangte nach einiger Zeit wieder die Fassung, schnappte die tollkühne Vorhut der gefiederten Armee und brachte sie zurück in die Hühnerkaserne. Ihre Seele, ihre Arme und Beine waren nun urplötzlich mitten im Getümmel und ihr Geist fasste den Entschluss eine scharfe diplomatische Note der Frau des alten Mannes zu überreichen. 

Das Gespräch mit der geschätzten Frau Außenministerin wurde durch das Erscheinen des rabiaten Manns unterbrochen. Und dann passierte etwas, was bereits 1914 passiert ist: Ein Ereignis packte die Seele, Arme und Beine der Menschen, vernebelte ihren Geist und so stolperten sie geradewegs auf einen Weltenbrand zu. Das Unbewusste und Unterbeleuchtete in der Seele des alten Mannes ließ es nicht zu, dass das Licht der Vernunft die seelische Landschaft ausleuchtete und so diktierte seine Angst vor einem Gesichts- und Persönlichkeitsverlust seine weiteren Handlungen. Das seelische Getümmel inmitten der Offizierin machte sie keuchend und kurzsichtig. Sie interpretierte die Handlungen des Manns vermutlich ziemlich falsch und glaubte er würde sie verfolgen, obwohl er nur einen Fotoapparat holen wollte um weitere Grenzverletzungen der Hühnerarmee dokumentieren zu können. Aber sie meinte er jage mit seiner Kavallarie hinter ihr her. Sie hatte das Gefühl, der unerbittliche alte Mann auf seinem Buzephalus (das berühmte Pferd Alexanders) stelle ihr nach. Irgendwann begann sie aus lauter Verzweiflung zu weinen, während der alte Mann neben ihr verwundert mit seinen Schultern zuckte.

Aber dann. Aber dann ergab sich eine dieser fein gesponnenen Wendungen des Schicksals, als der
Erzfeind des alten Mannes die Szene kreuzte und ein wildes Geschrei hob an. Dann wurde es ruhig. Dann wurde es Nacht und in der Nacht kam der Herzinfarkt zu dem alten Mann. Das erforderte dann den Einsatz der modernen Gerätschaft in Form eines Notarzthubschraubers und mehrerer Stents, die das Herz des alten Mannes wieder offen halten sollen. Es wird noch ein wenig Zeit brauchen, bis ihn das geweitete Herz zu jenen Erkenntnissen führt, die wir alle dringend nötig haben: Nur die Zuneigung zu allem, das uns begegnet, kann uns heilen - gefiederte Lebenwesen inklusive. 

Noch einen Schluss lässt die Geschichte zu: Weinen ist für das Leben bekömmlicher als martialische Gebärden. Aber da ist noch etwas, das tapfere Hühner in dieser Geschichte ausgraben könnten; nämlich der Umstand, dass ein Getümmel in der Seele und bittere Tränen häufig zu Fehlinterpretationen führen und das Gefühl reines Opfer zu sein verstärken. Ist das der Fall, so wird man wie die Offizierin, die eigene Reinheit beweihräuchern. Opfer zu sein hat den Vorteil des uneingeschränkten Beistands aller anderen. So lullt uns die krumme Geschichte ein und wir lehnen ein neuerliches Überdenken der Fakten ab. Ohne immerwährende Reflexion gibt es aber keine tiefere Erkenntnis, keine adäquate Deutung der Welt und daher hält die Zukunft häufig ähnlich gelagerte Ereignisse für uns bereit. Dann können wir uns erneut Beulen holen oder eben zu einer besseren Interpretation der Welt gelangen.

Die ganze Geschichte ermöglicht eine weitere philosophische Assoziation, denn in Platons Akademie waren die gelehrten Männer ständig damit beschäftigt das Wesen des Menschen zu definieren. Als Platon die Definition aufstellte, der Mensch sei ein federloses zweifüßiges Tier, und damit Beifall fand, rupfte Diogenes einem Hahn die Federn aus, brachte ihn zur Akademie und stieß in mit den Worten "das ist Platons Mensch" in den Raum.